Giver und „Sculpture Of Violence“: Im Schrecken seines Selbst
10.02.2020 | Jakob Uhlig
Es gehört schon viel dazu, im Jahre 2020 ein Hardcore-Ausrufezeichen zu setzen, ohne sich dabei von allen Regeln der Genre-Kunst zu entfernen. Touché Amoré gelang vielleicht zuletzt ein solcher Geniestreich, der vor allem von seiner introspektiven Ehrlichkeit lebte. Aber selbst „Stage Four“, eines der vielleicht erschütterndsten Traueralben aller Zeiten, gebrauchte für seine tiefgreifenden Emotionen Elemente, die sich ein Stück weit von den stickigen AZ-Ursprüngen der Band entfernten. Da war die sanghafte Hook von „Palm Dreams“, die geradezu süßlichen Melodien in den Gitarren von „Flowers And You“ oder aber das unvergessliche Finale, in dem die Band mit massiver Soundkulisse die Arme ausbreitete, das Schreien fast gänzlich aufgab und sogar Ausnahme-Singer-Songwriterin Julien Baker ins klangliche Zentrum rückte.
Zugegeben: Ein derartig unerreichtes Ausnahmewerk wie „Stage Four“ können Giver mit ihrer zweiten Platte nicht liefern, aber wer sich wirklich als Hardcore-Purist versteht, der hat mit „Sculpture Of Violence“ vielleicht eine der besten Genre-Inkarnationen der letzten Jahre entdeckt. Das liegt zum einen an den wirklich brutal guten Instrumentals, die in ihrer Schärfe schon fast Unsane-Niveau erreichen. Giver werfen sich von Song zu Song wagemutig in jede Dissonanz, ächzen jeden Ton mit unfassbarer Verächtlichkeit auf die Platte und erzeugen einen Klangstrudel, für den man wirklich verdammt viele Nerven braucht. Die Band hat verstanden, dass das massive Sound-Potential des Hardcores nicht in seinem stumpfsinnigen Aggressionspotential, sondern in der schieren Überwältigung liegt. So ist „Sculpture Of Violence“ eine Platte, die man erstmal mit einer Zigarette verdauen muss. Etwas über eine halbe Stunde setzen Giver einem massiv harten Tobak vor, der die Klangbreite der aktuellen deutschen Post-Hardcore-Welle um Fjørt in sich aufsaugt, ohne dabei in die stilprägende Anmut zu verfallen. Stattdessen bleiben Giver stets maximal giftig.
All das wäre aber nur die halbe Miete, wenn „Sculpture Of Violence“ nicht auch textlich derartig mitreißend wären. Giver sind politisch, aber sie vermitteln ihre Ideale weniger fordernd, sondern vielmehr reflektierend. Eines der bittersten Beispiele findet sich in „Every Age Has It’s Dragons (Like An Empire)“, das Kapitalismuskritik vor allem anhand der eigenen Doppelmoral aufzeigt: „Fourteen hour day and a floor to sleep/ Sewing machine and a mother to three/ I get up, turn and leave the scene/ Pull the plug, close the laptop screen/ What’s one to do about her living hell?/ I sigh, put on a Gildan shirt in L.“ Die eigene Zerrissenheit in der Ungerechtigkeit der Welt machen Givers Botschaften viel realer als die hundertste Standard-Parole jeder x-beliebigen Hardcoreband. „Sculpture Of Violence“ wird so zu einem Trip, für den man bereit sein muss. Wer sich aber darauf einlässt, der wird mit intensiven Selbstfindungsfragen belohnt, die genau so dramatisch klingen, wie sie sind. Wer die intensiven zehn Tracks überstanden hat, taumelt schlussendlich in ein paar dramatische Klavierakkorde, die das vorangegangene Soundmonster erbittert kommentieren. Am Ende ist man doch ohnmächtig.
Wertung
Ein gewaltiger Hardcore-Brocken, der fast jede seiner Chancen über die Zielgerade bringt. Givers Status als neue deutsche Hardcore-Hoffnung wird mit „Sculpture Of Violence“ massiv zementiert. Wo soll das noch hinführen?
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.